20.11.2024
Worte aus der Kirche zum Ewigkeitssonntag 24.11.2024
Die Energie der anderen
Da geht die Schwester nach der Patientenversorgung gerade aus der Haustür und sagt doch noch zum Schluss: „Ich bete für Sie“. Ein junger Mensch verabschiedet sich von seiner Familie, um monatelang auf einem anderen Kontinent neue Erfahrungen zu sammeln. „Sei gesegnet und behütet!“ geben ihm die Eltern mit. Vom Krankenbett aus fällt der Blick der Patientin immer wieder auf die Karte einer guten Freundin mit einem Schutzengel. Gute Positive Energie, die zu anderen fließen kann.
Gute Ströme des Lebens, die kostbar sind, unbezahlbar. Solch ein Vertrauen, solch einen Zuspruch oder eine Ermutigung kann ich nicht einfordern im Ton von: Gib mir! Schnell, ich brauche! Diese Momente kann ich nirgends kaufen. Die Gesten des Trostes und der Zuversicht sind Geschenke. Manchmal mitten in grauen düsteren Stunden. Manchmal gerade dann, wenn meine eigene Energie, meine Hoffnung, mein Glaube dazu gar nicht fähig ist. Gewiss, die vielen guten Wünsche der anderen können mich zeitweise nicht erreichen. Und die anderen wissen nicht, wie mir wirklich zumute ist angesichts all dessen, was mir widerfährt, gesellschaftlich oder im persönlichen Schicksal. Und doch, ich freue mich über einen Menschen, der sagt: „Ich bete für dich“. Gut, wenn ich auf die Energie der anderen bauen kann.
Und so ist das wohl auch in den Trauerzeiten. Es geht auf und ab, hin und her. Es gibt keinen verlässlichen Plan. Und eigentlich nur Überforderung. Dennoch sind da Menschen, auf die ich mich verlassen kann. Es gibt Momente, in denen Hoffnung wächst. Da sind Augenblicke, in denen Glaube greifbar wird. Und manchmal tut es dann so gut, eine Hand zu spüren, eine Stimme zu hören, einen Blick zu teilen und zu erfahren: Ich bin nicht allein.
Im Evangelium bei Matthäus im 25. Kapitel lesen wir heute von den Frauen, deren Energie nicht reicht. Ihre Öllampen verlöschen. Sie wollen vom Öl der anderen. Vergeblich. Dann gehen sie Öl kaufen und verpassen den eigentlichen Moment - die Ankunft des Bräutigams.
Aber müssen wir immer nur auf die eigene Energie vertrauen? Vielleicht werden wir in entscheidenden Momenten auch getragen von dem Vertrauen und der Fürbitte, von der Leidenschaft und der Liebe der anderen. Dann ständen die Frauen im entscheidenden Moment dabei. Sie sehen und werden gesehen - auch wenn sie keine eigenen Lampen hochhalten. Heilige Liebe sieht auch die im Schatten, eben jene, die gerade selber nicht strahlen können.
Eine Energiekrise, ja auch eine spirituelle Krise haben wir dann, wenn jede und jeder meint: Ich muss die Kraft für mich besitzen. Ich muss sie nur für mich haben. Eine Chance auf Leben wächst vielmehr dort, wo wir Energie teilen, den anderen mitnehmen, den Schwachen stärken und den Trauernden aushalten in seiner widersprüchlichen Lage. Verantwortung, Lasten und Freuden teilen, miteinander lachen und weinen und den Augenblick nicht verpassen – dann widerfährt uns Großes um Gottes Willen auch in dunklen Zeiten. Ja, dann öffnen sich Türen - global und lokal - für die Ewigkeit. Das hat Jesus, der Christus, bezeugt.
Ulrich Paulsen, Pfarrer am Hospiz Stendal