16.04.2022
Das Wort zum Karfreitag

Eine ältere Dame aus meiner Gemeinde erzählte mir: „Der Karfreitag ist mir aus meinen Kindheitstagen in Erinnerung. Lange ausschlafen war verpönt. Meine Eltern fanden es unpassend, an diesem Tag lange im Bett zu liegen. Ich hatte den ganzen Tag das Gefühl, dieser Tag gehört nicht mir, er gehört Jesus. Zum Mittag gab es Fisch, das Spielen im Freien wurde uns untersagt, das Radio blieb aus und wir sollten weder pfeifen noch singen. Ich hatte das Gefühl, dass sich jeder Mensch an diesem Tag etwas zurücknahm.“

Zur Karfreitagstradition meiner Familie gehört es, gemeinsam wandern zu gehen. Was soll man auch sonst machen an einem gesetzlichen Feiertag, an dem bundesweit die Geschäfte geschlossen haben und es nicht üblich ist, ausladend zu feiern. Wie die Meisten Menschen in unserer Region gehört meine Familie keiner Kirche. In einem Gottesdienst der Sterbestunde Jesu zu gedenken ist ihnen fremd – also wird der freie Tag für eine gemeinsame Tour in den Harz genutzt. Einmal im Jahr kommt der ganze Familienkreis zusammen, noch viel mehr Menschen, als Heilig Abend und Ostern an die Festtafel passen würden, begeben sich gemeinsam in Richtung Brocken.

Der Karfreitag hat einen schweren Stand. Das althochdeutsche Wort „kar“ bedeutet Kummer, oder Klage. Der Karfreitag ist also ein Trauertag- daher gilt die besondere Feiertagsruhe. Und damit fängt manche Schwierigkeit an. Warum soll man heute noch einen fast 2000 Jahre alten Tod betrauern?

Für mich ist der Karfreitag mehr als ein Tag der Trauer. Ich sehe in ihm die ganze Welt: Da ist das Schweigen Gottes. Jesus ruft und erhält keine Antwort. Es ist ein Tag der Gewalt und des Hasses. Jesus wird verraten und verleugnet am Karfreitag. Seine Freunde bringen sich in Sicherheit. Man will nicht zu den Verlierern gehören, zu denen Jesus scheinbar gehört. Und, fast unscheinbar, ist Karfreitag auch ein Tag der Liebe. Da sind Frauen, deren Liebe Aushalten heißt.  Jesus zeigt seine Liebe zu Gott, indem er ihm vertraut, obwohl er ihn nicht versteht. Und Zuletzt ist der Karfreitag ein Tag der Vergebung. Der sterbende Jesus, von seinen Feinden an ein Kreuz genagelt sammelt die Kraft für einen ungeheuerlichen Satz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Und wenn es so ist, dass Gott mir all meine Fehler und Unzulänglichkeiten vergibt, dann ist der Karfreitag neben allem auch ein Tag der Dankbarkeit. Ich bin Gott dankbar, dass er mich nicht meiner Schuld überlässt. Sondern immer und allein seiner Gnade. Warum sollte man diesen Tag nicht anders gestalten, als alle anderen Tage des Jahres?

 

Pfarrerin Rebekka Prozell aus Jerichow