26.09.2021
Das Wort zum Sonntag dem 26.09.2021

Grünkäppchen und die Wahl

In Wahlkampfzeiten wird viel Tacheles und Klartext geredet. Es wird aber auch manch wohlverpackte Lüge und feinformulierte Sonntagsrede verbreitet. Deshalb möchte ich heute am Tag vor der Bundestagswahl ein selbstgeschriebenes Märchen erzählen. Nicht „Rotkäppchen und der Wolf“, sondern „Grünkäppchen und die Wahl“.

Grünkäppchen war ein Junge mit einer grünen Mütze aus Grünenwulsch in der Region Bismark. Er lebte mit seinen Eltern in einem kleinen Baumhäuschen zwischen Feld, Wald und Wiesen inmitten unserer schönen Altmark. Sein Vater hatte ihm die grüne Mütze bei einem Krankenhausaufenthalt aus Langeweile gehäkelt. Und wegen der blattgrünen Farbe wurde sein Sohn von allen bald nur noch „Grünkäppchen“ gerufen. Grünkäppchen fand das cool und machte den Namen zu seinem Markenzeichen. Nun war Grünkäppchen eines schönen Tages 18 Jahre alt geworden. Und so durfte er nun zum ersten Mal seine Stimme für die große Abgeordnetenversammlung, sprich Bundestag, im fernen Berlin abgeben. Von allen Laternenmasten lächelten ihn Gesichter an und so manches Schlagwort prägte sich ein. „Jetzt“, „Freiheit“, „Mindestlohn“, „Westniveau“, „Wirtschaftswunder“, „Klima“ usw.

Grünkäppchen überlegte sich, ob er überhaupt wählen gehen sollte. Es bestand keine Wahlpflicht wie in Belgien, und auch die Zeiten, da es nur eine Einheitsliste gab, waren lang vorbei. Aber wen wählen?  In jeder Familie und in jedem Dorf gab es jemanden, mit dem man vernünftig reden konnte. Wie ist es mit der Klimakrise? Wie ist es mit der A14? Wie soll es weitergehen mit den Kindergärten und Schulen in der Altmark? Was ist mit Kirchensteuer, Integration und Heimat? Grünkäppchens Vater riet ihm: „Geh doch zum alten Wilhelm ins Nachbardorf. Der ist weit über 90 Jahre alt und hat schon 4 Gesellschaftssysteme erlebt, mit dem kannst du offen, ehrlich und vor allem vernünftig reden.“

So machte sich Grünkäppchen mit einer guten Flasche Bier, einer Salami und selbstgebackenem Brot im Rucksack auf den Weg zum alten Wilhelm. Im Wald begegnete Grünkäppchen natürlich nicht dem Wolf, weil er laut und schief sein Lieblingslied „Geh‘ aus mein Herz und suche Freud“ in den Abendhimmel schmetterte. Geh‘ aus mein Herz und suche Freud /in dieser lieben Sommerzeit /an deines Gottes Gaben. /Schau an der schönen Gärten Zier /Und siehe wie sie mir und dir /sich ausgeschmücket haben, / sich ausgeschmücket haben.

Apropos „Gottes Gaben“ und „schöne Gärten“, es gefiel Grünkäppchen die Welt durch die Glaubensbrille zu sehen. Glaube kommt aus dem Hören der Botschaft Jesu. Ja! Und Grünkäppchen sah die Natur bedingungslos als Gottes Schöpfung an und die Mitmenschen bedingungslos als Jesu Schwestern und Brüder. Das Reden über Jesus hatte in ihm den Glauben entzündet und bei seiner Konfirmation hatte er sich öffentlich zu Jesus von Nazareth bekannt.

Den Wolf sah Grünkäppchen also nicht, aber viele, bunte Vögel. Das Rotkehlchen, so schien es Grünkäppchen, zwitscherte von Respekt, Klima und Verantwortung. Es hatte offensichtlich eine tiefe Abneigung gegen den Gartenrotschwanz. Der Schwarzstorch in seinem Nest auf dem Ziegeleischornstein ließ sich den „wind of change“ um den roten Schnabel wehen, verbreitete ansonsten aber keine besondere Aufbruchstimmung. Der Gelbspötter schien „mit den Wölfen zu heulen“ und wollte Selbigen wohl an den Kragen, ohne etwas über Waschbären und Wildschweine zu zirpen. Der Grünspecht pochte, wie immer, auf Holz, und hatte auch eine tiefe Abneigung gegen den Gartenrotschwanz. Und die blaue Elster schließlich krächzte prinzipiell gegen alles und jeden, und richtete nur Schaden an. Mit der wollte anscheinend kein anständiger Vogel etwas zu tun haben. Keiner der Vögel brachte Grünkäppchen von seinem Weg ab. Im Nachbardorf angekommen, hatte Grünkäppchen ein erhellendes Gespräch mit dem alten Wilhelm. Der gab einige seiner Weisheiten an Grünkäppchen weiter: „An der Wahl hängt nicht dein Seelenheil!“, „Lass dich nicht bevormunden!“, „Plapper keine hohlen Phrasen nach!“, „Wer nicht wählt, darf sich auch nicht beschweren!“, „Meine Freiheit endet immer bei der Rücksichtnahme auf meinen Mitmenschen!“ und „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1 Joh 5,4)“ Diese Weisheiten nahm sich Grünkäppchen zu Herzen und ging am Wahltag ins Dorfgemeinschaftshaus und machte seine Kreuzchen auf dem Wahlzettel. Dabei  sang er für sich die letzte Strophe von „Geh‘ aus mein Herz“: Erwähle mich zum Paradeis /und lass mich bis zur letzten Reis /an Leib und Seele grünen, /so will ich dir und deiner Ehr /allein und sonsten keinem mehr /hier und dort ewig dienen, /hier und dort ewig dienen.

Um 18 Uhr schlossen die Wahllokale und am späten Abend verkündete der Bundeswahlleiter das „vorläufige, amtliche Endergebnis“. Die Welt ging nicht unter, und am Montag kam, wie gewohnt die Sonne hinterm Horizont hervor. Das Leben ging weiter.

Und die Moral von der Geschicht‘:  Wähl‘ keine falschen Vögel nicht!

 

© Stefan Kemper-Kohlhase (ev. Pfarrer in Kläden)